Kritisch zu betrachten ist das Typenmodell hinsichtlich der Trennschärfe. Zur Saison 2022/2023 meldet der DFB ca. 2,2 Mio. aktive Spieler in Deutschland, wovon angenommen werden kann, dass sich der Großteil an Spielern nicht unmittelbar einem Spielertyp zuordnen lässt. (Quelle: https://www.dfb.de/verbandsstruktur/mitglieder/aktuelle-statistik/)
Testen wir diese These doch einmal mit einer Beispielfrage: Ist der ehemalige BVB-Spieler Jude Bellingham wirklich ein Mentalitäts- und Führungsspieler oder doch eher ein Perfektionist bzw. Individualist oder sogar beides? Wo würdest du den Spieler einordnen?
Besser ist also ein eigenschaftsorientierter Ansatz der auch Hybrid- und Mischformen und somit in Summe mehrere Variationen an Spielertypen zulässt. Schlecht ist das Typenmodell jedoch per se nicht, denn es liefert uns einen Pool an wichtigen individuellen Eigenschaftskriterien, die in Kombination mit einer stark ausgeprägten mentalen Stärke eines jeden Spielers für den Erfolg einer Mannschaft wichtig sein können.
Jetzt wissen wir, welche Persönlichkeitseigenschaften wichtig sind. Aber wie wichtig ist die Persönlichkeit überhaupt im Vergleich zu dem Talent und den körperlichen Fähigkeiten eines Spielers? Geht man nach den wissenschaftlichen Messmethodiken in den Nachwuchsleistungszentren (NLZ) so liegt der Fokus hierbei ganz stark auf den körperlichen und sportmotorischen Fähigkeiten. Auch im Scouting kann es hin und wieder vorkommen, dass die Wechselwirkung aus Psyche und Talent vernachlässigt wird, was zur Folge hätte, dass mitunter gute Spieler nicht entdeckt werden. Sind Spieler beispielsweise eher perfektionistisch veranlagt, werden sie auf dem Spielfeld nicht ihr gesamtes Potenzial offenbaren, da sie, um Fehler zu vermeiden, kein Risiko eingehen. Obwohl sie die Fähigkeiten (z. B. Dribblingsstärke) hätten, um einen Zweikampf zu gewinnen, wählen sie mit dem Rückpass, die für sie sicherere Variante. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Persönlichkeit sehr wohl auch eine wichtige Rolle spielt und zum sportlichen Erfolg eines Spielers beiträgt.
Die Wechselbeziehung zwischen Talent und Persönlichkeit ist daher ein Zusammenspiel und kein Konkurrenzkampf. Die Psyche beeinflusst die körperlichen Fähigkeiten und umgekehrt beeinflussen die körperlichen Fähigkeiten auch die Psyche. Verletzungen und andere Widerstände könnten gegebenenfalls dazu beitragen, das Spieler eine mentale Krise erleiden und bereits viel zu voreilig ihren Traum von einer Profikarriere im Fußball aufgeben. Andere wiederum kämpfen sich selbständig oder mit der Unterstützung ihres sozialen Umfeldes zurück, zeigen mentale Stärke und beweisen Ausdauer und Widerstandsfähigkeit.
In Bildern beschrieben ist das sportliche Talent der Inhalt eines Safes und die Persönlichkeit der Schlüssel bzw. der Code, um diesen zu öffnen. So wie es auch mehrere verschiedene “Spielertypen” gibt, ist auch der Inhalt in jedem Safe ein Anderer bzw. anders verteilt. Wer jedoch gar keinen Safe besitzt, brauch auch keinen Schlüssel. Wer hingegen einen Safe besitzt und den Schlüssel nicht nutzen will oder kann, verschenkt die Chance, den Safe zu öffnen und sein volles Potenzial abzurufen. Talent ist also eine wichtige Voraussetzung, muss aber auch gefördert und abgerufen werden. Und genau da kommt die Persönlichkeit ins Spiel! Deshalb sind hierbei insbesondere die Nachwuchstrainer gefragt, das bislang unausgeschöpfte oder ungenutzte Potenzial von Talenten zu erkennen und solchen Spielern den “Schlüssel” zum Abruf ihrer Fähigkeiten zurückzugeben, indem sie diese mental stärken und ihre Persönlichkeit weiterentwickeln. Wir sind uns sicher, dann würden es mehr Talente zu den Profis schaffen!